Wie oft hören wir von anderen Menschen, vor allem in „spirituellen Kreisen“, die Empfehlung: „Du musst endlich verzeihen (lernen)“. Gleichzeitig wird übersehen, was der andere Mensch vielleicht für Schmerz, Erniedrigung und tiefe Verletzung über lange Zeit erlitten hat. Der gute Ratschlag kann dann wie eine Ohrfeige klingen. Wie sieht Verzeihen denn überhaupt aus? Im folgenden Artikel stelle ich Ihnen das Modell der Vergebungsarbeit vom Schweizer Hypnosetherapie Experten Gabriel Palacios vor.
Subtile Verletzung und tiefer Schmerz
Konflikte sind nicht einfach eine unbedeutende Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, sondern sind gekennzeichnet durch tiefgreifende, belastende Emotionen. Auch Glaubenssätze in Form eines daraus entwickelten Weltbildes können entstehen; zum Beispiel nach einer Trennung: „Alle Männer sind verlogen.“ Dass der Beendigung der Beziehung vielleicht bereits ein langes Misstrauen, Eifersucht, Nachspionieren, Seitensprünge und Heimlichkeiten vorausgegangen sind, zeigt, wie allumfassend und tiefschürend Konflikte sein können.
Doch auch subtile Verletzungen in der Kindheit durch Geschwister oder einen bestimmten Elternteil können tiefe Narben hinterlassen und den Blick auf uns selbst verfälschen. Die Gefühle, nicht gut genug zu sein oder immer sein Bestes geben zu müssen, um geliebt oder angenommen zu werden, können hier ihren Anfang nehmen und sich später stetig wiederholen – zum Beispiel in der Beziehung, Freundschaft oder Arbeit. Nicht immer müssen es die großen, offensichtlichen Verletzungen oder Auseinandersetzungen sein, die sich tief in uns eingraben. Oft sind es die Randäußerungen, das Gefühl im entscheidenden Moment, auf sich alleine gestellt zu sein, stille Demütigungen, Beleidigungen, abschätzende Äußerungen über das eigene Aussehen oder Drohungen (z. B. bei schlechten Noten), die wie ein kontinuierlicher Tropfen irgendwann das Fass zum Überlaufen bringen können.
Leider wird häufig der dabei verspürte Schmerz im Laufe der Zeit immer mehr weggeschlossen, um ihn nicht mehr spüren zu müssen. Dennoch ist er immer Verborgenen vorhanden. Das Unterbewusstsein vergisst nicht! Ein gutes Beispiel für subtile Verletzungen ist auch Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz. Andere Menschen können es schaffen, durch Worte und Handlungen den Ort, an den wir täglich zurückkehren müssen, zur Hölle werden zu lassen. Das meiste geschieht lange im Verborgenen, sodass es Vorgesetzte oder Lehrkräfte nicht mitbekommen – außer sie selbst sind Teil des Mobbingsystems. Was dies für Betroffene bedeutet, die stetig eine Zunahme des Terrors ertragen müssen, mag man sich gar nicht vorstellen. Dennoch passiert er tagtäglich. Hilfe wird aus Angst oder Scham bedauerlicherweise noch immer zu selten gesucht.
Die Gefahr unterschwelliger Konflikte
Manche Menschen gehen bei bestimmten Worten, einem schiefen Blick oder bei unbedachten Handlungen wie eine Rakete an die Decke. Die Antwort aus Sicht des Unterbewusstseins liegt in ihren Erfahrungen, die jemand anderes wahrscheinlich nicht gemacht hat. Zeigen sich bloß nur Anzeichen oder ähnliche Vorkommnisse wie jene, die bereits in der Vergangenheit geschehen sind, reagiert unser Frühwarnsystem, um zu verhindern, dass es wieder zu denselben Erfahrungen kommt. Das erklärt, warum manche Menschen sehr leicht triggerbar sind: Ihr Nervenkostüm ist schon so übervorsichtig und das Unterbewusstsein so rasch in Alarmbereitschaft, dass bereits unscheinbare äußere Reize (Lärm, Hitze, etc.) reichen können und sich die betroffene Person bedroht fühlt.
Wenn man sich diese Wirkkette näher ansieht, dann versteht man auch die tiefgreifende Gefahr unterschwelliger Konflikte, die stets unterdrückt wurden. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass nicht immer jeder Konflikt (nicht zu verwechseln mit Streit) betrachtet und sofort bearbeitet werden muss, denn dafür braucht es Begleitung, Bereitschaft und den richtigen Zeitpunkt. Gleichsam weiß man inzwischen, dass eine Summe ungelöster und stetig brodelnder Konflikte zu psychosomatischen Beschwerden, stetigem Stress und sogar zu zellulären Veränderungen führen kann. Noch immer werden zwischenmenschliche Konflikte unterschätzt oder nach einiger Zeit unter „vergangen“ abgehakt, doch unser Unterbewusstsein, das Sammelbecken an Vorstellungen, Gedanken und Emotionen, kann dies ganz anders sehen. Daher sollten wir die Dinge, die uns aus der Fassung bringen und triggern, wenn wir dazu bereit sind, näher betrachten. So lässt sich verstehen, was uns belastet. Nicht zwingend, muss dafür mit der Vergangenheit gearbeitet werden, oft bietet sich, gerade auch in der Hypnose, eine bestärkende, zukunftsorientierte Vorgehensweise an.
Verzeihen – aber wie?
Damit sind wir nun genau beim Thema angekommen. Ganz gleich, ob wir einen Teil der Geschichte unseres Gegenübers kennen oder nicht, wir stecken nicht in seinen/ihren Gefühlen. Hier den Ratschlag abzugeben, endlich zu verzeihen, kann für den betroffenen Menschen ein Ding der Unmöglichkeit sein. Meist wissen wir gar nicht, wie wir verzeihen sollen. Dafür gibt es kein Rezept. Zusätzlich erfolgte von den verletzenden Menschen vornehmlich nie ein „Es tut mir leid“. Eine Aussprache über etwas, worüber sich dieser Mensch vielleicht nicht einmal eines Fehlverhaltens bewusst ist/war, kann schwierig sein und den Betroffenen noch mehr Belastung bringen. Selbstverständlich kann ein respektvolles Gespräch auf Augenhöhe ein wichtiger Schritt sein, um alte Konflikte zu lösen. Doch nicht immer ist das möglich.
In der Energiearbeit und im Schamanismus gibt es viele Rituale wie das hawaiianische Ho´pono pono, das in einen tiefen spirituellen Austausch mit der verletzenden Person geht. Nicht jeder Mensch findet sich hierin wieder. Die Hypnose nach Gabriel Palacios bietet hingegen gerade für das Unterbewusstsein Ansatzpunkte, um so mit zwischenmenschlichen Konflikten und Verletzungen umzugehen, wie es gerade gut und richtig ist. Dem/der Betroffenen wird dazu eine kraftspendende körpereigene Ressource zur Seite gestellt, um sich mit einer verletzenden Situation auseinanderzusetzen. Die Entscheidung, mit der Vergangenheit zu arbeiten, obliegt jedoch ganz bei dem jeweiligen Menschen. Hierzu sollte es nie einen Zwang durch andere geben.
Vergeben versus Verzeihen
Bevor wir uns näher mit der Methodik der speziellen Vergebungsarbeit beschäftigen, gilt es, die Begrifflichkeiten von Vergeben und Verzeihen auseinander zu halten. Die Differenzierung dieser beiden Worte ist wichtig, um das Modell zu verstehen:
In Vergeben steckt das Wort „geben“ und wird laut dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache in Verbindung gebracht mit „(hin-, dar-) reichen, überlassen und schenken“ . Daher möchten wir in der hypnotischen Arbeit uns und der verletzenden Person „Gutes tun“. Gabriel Palacios leitet in seinem Modell das vormalige „Opfer“ an, in seiner Energie in eine „Helferrolle“ aufzusteigen, das keine Vergeltung erreichen möchte, sondern das Geschehene aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und auf geistiger Ebene Unterstützung bietet. Vergeben lässt sich nach dieser Definition einem Menschen, nicht eine Tat oder Verhaltensweise.
Verzeihen wiederum hat seinen Ursprung im mittelhochdeutschen Wort „verzihen“, was soviel wie versagen und abschlagen heißt und abgeleitet wird von „zeihen“. Letzteres bedeutet „bezichtigen bzw. beschuldigen“. Zusammengefasst kann man unter „ver-zeihen“ als „ent-schuldigen“ definieren . Gabriel Palacios sieht daher Verzeihen“ als eine Form der Vergeltung an. Man erwartet sich einen Ausgleich für das Geschehene oder erlittene Unrecht durch ein Verfahren oder im Sinne von „wie du mir, so ich dir“. Die verletzte Person (das Opfer) erfuhr durch das Gegenüber (Täter) einen Mangel und möchte Gerechtigkeit erreichen, indem der Tätige durch eine Strafe ebenfalls in den Mangel kommt. Hierbei wird übersehen, dass das vormalige „Opfer“ nun für das Gegenüber zum Täter wird und dieser dadurch zum Opfer. Ob dadurch innerer Frieden einkehrt oder schlicht Gerechtigkeit, ist fraglich.
Bei der hypnotischen Vergebungsarbeit von Gabriel Palacios geht es nicht um eine „Ent-Schuldigung“ des Gegenübers, wir können und sollen ihm die Schuld auch nicht nehmen. Ebenso sollen Handlungen, Worte und Taten nicht als ungeschehen angesehen werden, sondern sie sollen möglichst keinen Schmerz mehr auslösen. Dies braucht seine Zeit und kann auch nicht aus heiterem Himmel verlangt werden. Die verletzte Person soll dies wollen und sich bereit dazu fühlen.
Das Dramadreieck
In der Psychologie und im Zusammenhang mit Konflikten wird gerne das Dramadreieck erläutert. Hierbei handelt es sich um drei fixe Rollenzuschreibung, die dabei immer vorkommen und im Wechselspiel zueinanderstehen: die Täter-, Opfer- und Retterrolle. Jede davon steht in Interaktion zueinander. Wo es ein Opfer gibt, existiert auch ein Täter. Als Retter kann unter Umständen jemand angesehen werden, der eine Lösung bringen und das Opfer aus seiner Position befreien sollen. Da das Opfer jedoch nicht selbst aktiv wird, verbleibt es in seiner Rolle. Der/die Retter/in schöpft aus seinem Tun das Gefühl, gebraucht zu werden, sowie Selbstbestätigung. Die Täterrolle verfügt über Macht und versucht, durch ihr Tun in die Handlungsfähigkeit zu gelangen. Das Dramadreieck bietet kaum Spielraum und lässt die Akteure auch durchaus Rollen tauschen (siehe „verzeihen“). Aus diesem Grund gilt es, den dahinterliegenden Mechanismus zu durchbrechen.
Bei der Opfer- und Täterrolle setzt das Modell von Gabriel Palacios aus. Wie soeben beschrieben, erhebt sich der Täter energetisch über das Opfer. Deshalb versucht die Vergebungsarbeit, das Opfer ebenfalls in seiner Energie aufsteigen zu lassen: aus dem Schmerz in die schenkende (vergebende) „Helferrolle“. Diese ist so charakterisiert, dass sie sich selbst in der Handlungsfähigkeit befindet und die Lösung ihrer Situation nicht mehr von außen durch einen Retter „er-wartet“. Die Helferrolle entsteht, indem im Rahmen einer speziellen Hypnoseanwendung eine körpereigene Ressource mit unterstützenden positiven Eigenschaften, Kenntnissen oder Erinnerung der jeweiligen Person zur Seite gestellt wird. Das vergangene Ich dieses Menschen, das verletzt wurde, erhält in der Hypnose Beistand von der Ressource, um in ein besseres Gefühl zu kommen.
In der Täterrolle wiederum wird auch eine Opferhaltung gesehen, indem man in der Hypnose ein Gefühl dafür zu bekommen versucht, warum sich dieser verletzende Mensch damals so verhalten hat. Man versucht, eine Idee davon zu bekommen, welche belastenden Erfahrungen es in seiner Kindheit gab, dass er so sehr in einen Mangel verfiel und so handelte. Dies entschuldigt nicht, was war, sondern soll das starre Dramadreieck weiter auflösen.
Die Bedeutung des inneren Kindes
Eine wesentliche Bedeutung in Gabriel Palacios` Vergebungsarbeit kommt dem inneren Kind zu. Er geht davon aus, dass wir energetisch und emotional nur dann ganz sind, wenn wir eine tragfähige, kraftvolle und tiefgreifende Verbindung mit unserem eigenen inneren Kind aufweisen. Aus diesem Grund stellt die körpereigene Ressource des vormaligen „Opfers“ auch einen positiven kindlichen Anteil dar, der in Verbindung mit dem verletzten Ich gebracht wird. Beide können dann miteinander „heilen“ und eine starke Einheit bilden. Während man zu verstehen versucht, welche prägenden und belastenden Erfahrungen der vormalige „Täter“ in seiner Kindheit gemacht haben könnte, geht es ebenfalls wieder um das innere Kind. Dieses Mal jedoch um seines, das, aus welchem Grund auch immer, verletzt war. Deshalb konnte der erwachsene Mensch nicht darauf zurückgreifen, war nicht mit seinem inneren Kind verbunden und suchte danach. Nur deswegen kam es zu seinem verletzenden Verhalten. Das ist die Grundidee von Gabriel Palacios´ Vergebungsarbeit.
In der Hypnose wird der kindliche Anteil des vormaligen Täters gestärkt und mit seinem erwachsenen Ich zusammengebracht, sodass sie „heilen“ können. Dann sind alle Vorzeichen geschaffen, um in der Hypnose eine Vergebung überhaupt möglich werden zu lassen. Oftmals geschieht es dann, dass das vormals verletzende Gegenüber durch das innere Kind an seiner Seite plötzlich ganz sanft zu der Person wird, die unter ihm gelitten hat. Ein schöner Austausch kann in der Hypnose nun ebenso möglich sein wie ein Bitten um Vergebung oder ein tiefes Verstehen. Dieser Vorgang kann für den Menschen, der lange mit der Verletzung gehadert hat, sehr heilsam sein und Frieden bringen. Im Nachgang kann sich dann so Manches lösen und verändern.
Wenn Vergeben nicht möglich ist
Dieses Modell und Gabriel Palacios` Sichtweise auf das Thema Vergebung sollen nicht den Anschein erwecken, dass sich jeder Schmerz, verursacht durch andere, oder jegliche Konflikte auf diese Weise lösen lassen. Wie oben geschrieben, ist es aber auch gar nicht der Anspruch der Hypnose, das Gegenüber von seinem/ihrem Verhalten bzw. Taten zu „ent-schuldigen“. Dennoch gibt es auch Situationen und Ereignisse, die sich nicht vergeben lassen, weil sie so schwerwiegend waren, dass sie in die Hand von Fachpersonal (Trauma- und/oder Psychotherapeuten) gehören, besser zunächst in der Verdrängung bleiben oder erst zu einem späteren Zeitpunkt betrachtet werden. Auch das darf sein.
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir nicht immer alles krampfhaft auflösen müssen. Gerade bei so vielschichtigen Themen wie der Vergebung dürfen keine vorschnellen Schritte getroffen werden. Entsprechende Hypnosesitzungen haben daher auch ein ausführliches und ehrliches Vorgespräch, in dem die mögliche Vorgehensweise offen vorgestellt wird. Erst, wenn das Gegenüber der Zusammenarbeit unbeeinflusst zustimmt, erfolgt die Vergebungsarbeit. Sollte diese noch nicht möglich sein, so gibt es in Gabriel Palacios` Modell auch eine sogenannte „repräsentative Vergeltung“. Die verletzende Person wird hier nicht „bestraft“, sondern mit bestimmten Schritten wird Distanz aufgebaut und dafür gesorgt, ein neutraleres Gefühl zu entwickeln. Dies kann im ersten Schritt deutlich leichter umzusetzen sein, als zu vergeben.
Fazit
Vergebung bedeutet nicht, Vergangenes ungeschehen werden zu lassen oder verletzende Menschen von ihren Taten freizusprechen. Vielmehr möchte sie uns anleiten, uns ehrlich und selbst bestimmt aus dem ewigen Dramadreieck zu befreien. Erkennen wir im Gegenüber einen tiefen Mangel und verstehen wir, dass dieser eine wesentliche Triebfeder für sein Handeln war, so kann es viel leichter fallen, Vergebung zu schenken und Frieden zu finden. Das Modell nach Gabriel Palacios bietet uns die Chance, nicht nur eine tiefe Verbindung zu unserem inneren Kind aufzubauen und daraus eine umfassende Kraft zu schöpfen, sondern durch die Stärkung auch das verletzende Gegenüber mit seinem kindlichen Anteil in der Vorstellung zusammenzubringen. Vergebung darf niemals auf Zwang basieren, weshalb eine Entscheidung dafür immer auf freiem Willen basieren muss. Sollte sie nicht möglich sein, gilt es dies zu akzeptieren oder eine abgeschwächte Variante anzubieten. Vergebung kann Frieden bringen und einen Neustart ermöglichen, wenn wir dies wollen. ■
