Bei meiner Tätigkeit als Supervisor betreue ich vor allem Lehrkräfte im Alter von etwa 50 Jahren. Sie haben in der Regel bereits über 20 Jahre Schuldienst hinter sich, aber eben noch gut 15 Jahre vor sich. Die meisten von ihnen fühlen sich erschöpft und in einen oder mehrere Konflikte verwickelt, die Kraft kosten, Energie rauben und die ursprüngliche Motivation für den Lehrberuf radikal infrage stellen.
Zuhören statt wegsehen
► Großer Ärger mit den Eltern eines Drittklässlers, die sich erdreisten, die Lehrerin wegen einer Probe im Fach Religion anzugreifen. Der Grund: Ihr Sohn erhielt nur die Note 2 statt der erwarteten 1! Das lässt die Lehrerin, die einen engagierten und umsichtigen Unterricht hält, schier verzweifeln, da die Eltern deswegen auch noch bei der Schulleitung vorgesprochen und die Lehrerin dort schlecht gemacht haben.
► Permanente Unruhe in einer 9. Klasse am Gymnasium im Fach Mathematik. Der Lehrer, ausgebildet als Diplom-Mathematiker, bekommt die „Pubertätsklasse“ mit einem hohen Anteil an männlichen Jugendlichen einfach nicht in den Griff. Gedanken, nicht mehr leben zu wollen, kommen immer öfter in ihm hoch. Was soll er nur tun?
► Unlösbar erscheinender Konflikt mit der Vize-Chefin, die zugleich Fachkollegin in Deutsch an der Realschule ist. Die Lehrerin kann oft nicht mehr abschalten, auch am Wochenende nicht. Ihre Gedankenmühle dreht sich die ganze Zeit. Das belastet sie selbst emotional und auch ihre Familie immer mehr.
Diese Reihe an Konfliktsituationen könnte fast beliebig fortgesetzt werden. In der Arbeit mit meinen Supervisanden geht es zunächst darum, konkrete Lösungen zu diesen scheinbar rein schulischen Fragen und Problemen zu finden. Fast immer liegt das Problem jedoch viel tiefer: Grundlegende Lebensfragen tauchen auf, die nach einer Antwort drängen. Obwohl gar nicht beabsichtigt, gerate ich in den meisten Supervisionsprozessen in die Rolle eines Lebensberaters, Psychologen oder Seelsorgers.
Gar nicht so selten zeigt es sich, dass unter den äußeren schulischen Konflikten ungelöste Erlebnisse oder ungeheilte Emotionen von früher, das heißt aus Kindheit und Jugend liegen können. Die momentanen Probleme, weswegen die Lehrkräfte in die Supervision gekommen sind, sind zwar Auslöser, aber nicht die tieferen und eigentlichen Ursachen. Insofern ist der Lehrberuf, bei dem man es mit Kindern in der Entwicklung und Jugendlichen in der Pubertät zu tun hat, eine sehr exponierte und herausfordernde Profession. Denn mit zielgenauer Treffsicherheit erwischen die Schüler die wunden Punkte und drücken die berühmten roten Knöpfe, die jeder von uns Lehrkräfte hat – einfach deshalb, weil wir Menschen sind.
Dies hat Vor- und Nachteile. Stellt man sich den aufgebrochenen Themen und persönlichen Fragestellungen in einer Supervision oder in einer (Psycho-)Therapie, kann dies zur persönlichen Weiterentwicklung beitragen. Gefährlich wird es im Lehrberuf jedoch dann, wenn sich Situationen wie die hier genannten ereignen, man aber nicht die Kraft oder das rechtzeitige Einsehen in die Notwendigkeit einer begleitenden Hilfe hat. Ein Burnout kann die Folge sein.
Der Lehrberuf, bei dem man es mit Kindern in der Entwicklung und Jugendlichen in der Pubertät zu tun hat, ist eine sehr exponierte und herausfordernde Profession.
Das Aufbrechen von Sinnfragen in der Mitte des Berufslebens
Meine Erfahrung aus der langjährigen Arbeit als Supervisor ist es jedoch, dass sich für nicht wenige Lehrkräfte gerade in einem Alter um die 50 – oft ausgelöst durch einen schulischen Konflikt – u. a. diese grundlegenden Sinnfragen stellen:
► Was habe ich in den vergangenen 20 oder 25 Jahren als Pädagoge schon erreicht?
► Was ist mir gut gelungen, was ist mir misslungen?
► Welche Konflikte mit Schulleitern, einzelnen Schülern, ganzen Schulklassen oder mit Eltern haben mir viel Kraft gekostet?
► Wie soll es die nächsten 15 Jahre bis zu meiner Pensionierung weitergehen? Spüre ich überhaupt noch genügend Energie, dies zu schaffen?
► Welche Projekte will ich noch verwirklichen, was gibt mir jetzt gerade Motivation?
► Welche Ziele strebe ich für den Rest meiner Dienstjahre noch an? Gibt es eine höhere Position im Schulsystem, die ich noch erreichen könnte?
Um diese beruflichen Fragen und Überlegungen zur weiteren Lebensgestaltung und Lebensplanung für sich klären zu können, ist oft eine Auszeit dringend nötig. Manche Lehrkräfte bemühen sich daher rechtzeitig um ein sogenanntes Sabbatjahr. Ich kenne einige Pädagogen, die sich eine derartige Auszeit genommen haben. Der Wiedereinstieg in den Schulbetrieb ist manchen von ihnen dann jedoch sehr schwergefallen. Zudem haben die meisten Lehrer aus finanziellen und familiären Gründen keine Möglichkeit, ein ganzes Schuljahr auszusetzen. Es gibt jedoch ein anderes, sehr erprobtes und effektives Mittel, für kurze Zeit mental und emotional komplett vom Schulbetrieb abzuschalten und sich grundlegenden Lebens- und Sinnfragen hinzugeben: durch eine sogenannte Visionssuche.
Lehrkräfte sind dafür prädestiniert, neben der rein fachlichen Wissensvermittlung auch Psychologen, Seelsorger und Lebensbegleiter für unsere Schüler zu sein.
Visionssuche – erprobte Auszeit im Schulalltag
Hierbei handelt es sich um ein 12-tägiges Naturritual unter fachkundiger Leitung. Eine Visionssuche hat drei Phasen:
Phase 1
Vorbereitung in der Gruppe im Ritualraum
Unter dem Ritualraum ist eine möglichst abgelegene Gegend etwa in den Alpen oder der Toskana zu verstehen, damit die Visionssuche möglichst ungestört von Außeneinwirkungen ablaufen kann. Diese Phase dauert vier Tage, in der sich die einzelnen Mitglieder der Gruppe näher kennenlernen können, sowie täglich mehrere Ausflüge mit konkreten Aufgaben allein in die Natur machen. Das Ziel dabei ist es, mit dem Ritualraum immer besser vertraut zu werden, der zum Beispiel in einem mehrere Quadratkilometer großen Waldgebiet in der Nähe einer Alm bestehen kann. Diese dient meist zugleich auch als Basislager für das ganze Seminar.
Phase 2
Solozeit
Hierbei handelt es sich um das eigentliche Kernritual der Visionssuche. In einer feierlichen Zeremonie wird jeder Teilnehmer am Morgen des fünften Tages von den Leitern in die Wildnis verabschiedet. Für vier Tage und vier Nächte, also für fast für 100 Stunden, ist jeder ab jetzt für sich allein – ohne Essen, ohne Zelt und ohne jedes Kommunikationsmittel wie etwa das Smartphone. Er gilt mit der Verabschiedung als unsichtbar für alle anderen Menschen. Mit dabei hat jeder Teilnehmer nur ca. 15 Liter Wasser, eine Regenplane, eine Matte, einen Schlafsack, einen Rucksack mit der nötigsten Wechselwäsche und ein Tagebuch.
Darin können alle Gedanken und Gefühlen notiert werden, die während dieses radikalen und elementaren Auszeitprozesses allein mit sich in der wilden Natur hochkommen können: Gefühle intensiver Langeweile, Einsamkeit oder Ängste vor allem in der Nacht ebenso wie All-Eins-Erlebnisse in Gottes wunderbarer Natur oder Glücksgefühle über das Dasein in diesem Leben; neue erfrischende Ideen, die endlich aus dem eigenen Inneren hochsteigen können, weil alle äußeren medialen Ablenkungen ebenso fehlen wie die üblichen vertrauten Kontakte; berührende Begegnungen mit Tieren, Bäumen, Pflanzen und Landschaftsformationen, besonders dann, wenn die Visionssuche in den Alpen stattfindet u. v. m.
Lehrkräfte sind dafür prädestiniert, neben der rein fachlichen Wissensvermittlung auch Psychologen, Seelsorger und Lebensbegleiter für unsere Schüler zu sein.
Phase 3
Rückkehr und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft
Jeder Teilnehmer wird bei seiner Rückkehr aus der Solozeit von den Leitern empfangen und in ritueller Weise wieder sichtbar gemacht. Nachdem sich alle auch untereinander begrüßt haben, wird das Fasten symbolisch mit einem Stück Brot oder einem Apfel gebrochen. Diese dritte Phase dauert ebenfalls vier Tage. Sie werden dazu benötigt, damit die Teilnehmer vor allen ihre Geschichte vom Alleinsein da draußen in der Wildnis erzählen können. Jeder erhält danach einen Spiegel, das heißt ein intensives Feedback von beiden Leitern. Dieses kann enorm dabei helfen, die Erlebnisse mit sich und den Naturwesen besser einordnen zu können:
Welche Bedeutung haben die erlebten Gefühle und die Begegnung mit bestimmten Tieren, Bäumen und Landschaftsbildern für mich?
► Welche neuen Botschaften halten diese Erfahrungen für mich bereit?
► Welche neuen Ideen habe ich in der Auszeit in der Natur bekommen?
► Welchen tieferen Sinn bezüglich meines Lebens oder meines Berufes habe ich verspürt?
► Welche neuen Ziele haben sich für mich während des Alleinseins vielleicht aufgetan usw.?
Schließlich wird die Zeit auch noch dazu benötigt, die Rückreise in die vertraute Gemeinschaft zu Hause mental und emotional vorzubereiten. Zudem geben die Leiter einige Tipps auf folgende Frage: Wie kann ich diese besondere Zeit der Visionssuche in mir bewahren bzw. wie kann ich sie mir leicht in Erinnerung rufen, um auch später noch aus der Kraft dieser Auszeit schöpfen zu können?
Die Bedeutung der Visionssuche für den Persönlichkeitsprozess
Ich selbst habe das Ritual der Visionssuche zwischen 2000 und 2007 dreimal gemacht – auf einer Alm in Tirol, im slowenischen Dragoniatal und in den Nockbergen in Kärnten. Diese drei Auszeiten haben mir enorm geholfen,
► neue Kraft für meinen Beruf zu schöpfen,
► mir blockierte innere Prozesse aus Kindheit und Jugend bewusst zu machen,
► in meiner Persönlichkeit nachzureifen und stecken gebliebene Initiationsschritte abzuschließen,
► neue Ideen für meinen Beruf als Gymnasiallehrer in insgesamt 300 Stunden Alleinsein und Einsamkeit zu entwickeln
► und insgesamt einen guten Drive für die zweite Hälfte meiner Berufszeit zu bekommen.
Dadurch ist es mir gelungen, wieder genügend Kraft für meinen Beruf aus mir selbst zu schöpfen. Darüber hinaus hatten die drei Visionssuche-Seminare zwei weitreichende positive Folgen: Einmal bot ich danach meinen Schülern mit dem „WalkAway-Ritual“ ein kleineres altersgerechtes Format der Visionssuche für Jugendliche an und konnte es mit Erfolg auch jahrelang durchführen – zuerst als Schulprojekt für Schüler der 10. Klassen und später als privaten Ferienkurs für Jugendliche.
Außerdem kommen mir die Erfahrungen in den Visionssuchen und meine Reflexionen daraus für meine jetzige Tätigkeit als Supervisor gerade für Lehrkräfte sehr zugute. Denn dadurch fällt es mir oft leichter zu erkennen, worum es bei Problemen meiner Kollegen in der Schule manchmal in Wahrheit und in der Tiefe geht: um nicht erfolgte oder noch nicht abgeschlossene Initiationen ins vollständige Erwachsensein.
Daher kann ich das Ritual der Visionssuche nur bestens empfehlen. Unter der Internet-Adresse www.visionssuche.net kann man die meisten Anbieter solcher Seminare im deutschsprachigen Raum finden. Viele Leiter sind in der Tradition der amerikanischen „School of lost Borders“ ausgebildet. Diese Schule wurde um 1980 von dem Ehepaar Steven Foster und Meredith Little in den USA gegründet (www.schooloflostborders.com).
Lehrkräfte haben die Aufgabe, Initiationsmentoren für ihre Schüler zu sein. Diese elementare und wichtige Erziehungsaufgabe können sie jedoch nur erfüllen, wenn sie ihre eigene Initiation ins Erwachsensein möglichst umfangreich bewältigt und sich dieser bewusst geworden sind.
Initiation – der Schlüssel zur Pädagogik
Bezogen auf das Gymnasium kann man festhalten: Als Kinder treten die Schüler von der Grundschule über, als Volljährige (rechtlich gesehen damit als Erwachsene) verlassen sie es mit dem Abitur wieder. In der acht- oder neunjährigen Gymnasialzeit haben die Schüler somit zwei Lebensübergänge zu meistern:
► den vom Kind zum Jugendlichen: Dieser Prozess geschieht in der Regel durch das Einsetzen der Pubertät von selbst. Diese ist jedoch oft mit heftigen emotionalen Schwankungen verbunden, mit denen wir Lehrkräfte jeden Tag neu umgehen müssen.
► den vom Jugendlichen zum Erwachsenen: Das Erwachsenwerden geschieht jedoch nicht über Nacht mit dem 18. Geburtstag, es ist vielmehr ein längerer und intensiver Prozess, der der Begleitung durch erwachsene Mentoren bedarf.
Gerade wir Lehrkräfte sind dafür prädestiniert, neben der rein fachlichen Wissensvermittlung auch Psychologen, Seelsorger und Lebensbegleiter für unsere Schüler zu sein. Es geht eben nicht nur um das Fachliche, sondern immer auch zugleich um die Begleitung bei der Persönlichkeitsentwicklung, Charakterbildung und Werteerziehung unserer Schüler. Diesen Prozess möchte ich als Initiationsvorgang bezeichnen. Wir Lehrkräfte haben daher die Aufgabe, Initiationsmentoren für unsere Schüler zu sein. Diese elementare und wichtige Erziehungsaufgabe können wir jedoch nur erfüllen, wenn wir unsere eigene Initiation ins Erwachsensein möglichst umfangreich bewältigt und uns dieser bewusst geworden sind.
Diese Thematik spielt häufig eine wesentliche Rolle in meinen Supervisionsprozessen. Denn es geht um die Klärung folgender wichtiger Fragen, um die Schüler bei ihrem Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und des Erwachsenwerdens adäquat begleiten können:
► Was bedeutet es in unserer heutigen Gesellschaft, erwachsen zu sein?
► Welche Kriterien kann man an das Erwachsensein anlegen, das heißt wie kann man Erwachsensein definieren?
► Wie, auf welche Weise, durch welche Situationen, Zeremonien und Rituale können unsere Schüler heute ins Erwachsensein geleitet werden?
► Wann und wodurch bin ich als Pädagoge selbst erwachsen geworden?
Die Klärung dieser Fragen ist meiner Erfahrung nach wichtig und kann dem Unterricht neue Kraft und neuen Schwung verleihen, sowie die Schüler adäquat auf ihrem Weg begleiten. Die Visionssuche kann dabei entscheidend beitragen, sich als Lehrer innerlich neu aufzustellen und sich „psycho-fit“ für den Schulalltag in heutiger Zeit großer Herausforderungen zu machen. ■